Der Wind peitscht gegen die Fenster, als ich erneut die Snooze-Taste meines Weckers drücke, bevor ich mich endlich dazu durchringe, unter der warmen Decke hervorzukriechen und in die Küche zu schlurfen. Es ist kurz nach acht und das einzige Licht kommt vom Flackern der Straßenlaterne vor dem Haus. Ich schmeiße den Wasserkocher an, kippe das heiße Wasser in eine Thermoskanne, sammle meinen Wetsuit, Booties und Handschuhe von der Fußbodenheizung im Badezimmer und schlüpfe in meinen Fischeranzug und in die dicken Winter-schuhe. Die Autoscheibe ist vereist und die Temperaturanzeige liest -2 Grad. Ich schmeiße das Auto an, fahre zum Spot und schleppe mich die große Düne hoch, wo irgendwo hinter dem Nebel und der dicken Wolkendecke die Sonne aufgeht.
Das erste Tageslicht enthüllt kopfhohe Lines, die an den Strand rollen. Sofort bin ich hellwach und laufe zurück zum Auto, wo ich mich ebenso wie eine Handvoll gleich gesinnter Surfer in den Winter-Wetsuit samt Sieben-Millimeter-Handschuhen und -Schuhen zwänge. Beim Rauspaddeln kommt mir ein perfektes Set entgegen. Der erste Duckdive ist kalt, aber halb so wild. Erst als ich unter der dritten Setwelle hindurchtauche, schießt mir das stechende Gefühl durch den Kopf, dass viele vom Eiscreme-Essen kennen.
Schummrig komme ich im Line-up an und warte auf das nächste Set, das nicht lange auf sich warten lässt. Ich bewege mich so schnell, wie es die dicke Neoprenpelle zulässt, in Richtung Welle, springe nach ein paar kraftvollen Paddelzügen auf mein Brett, mache mich klein und verschwinde in einer perfekten, dunkelbraunen Nordsee-Barrel, die mich wenige Augenblicke später wieder ausspuckt und mich jegliche Kältesymptome vergessen lässt. Ich verbringe die nächsten Stunden damit, genau dieses Gefühl zu jagen und in den Setpausen im Kreis zu paddeln, um warm zu bleiben, bis die Kälte die Oberhand gewinnt und mich zwingt, meine Session zu beenden.
Das Gefühl, eine solche Session im Winter mit nur einer Handvoll Leuten im Wasser zu teilen, ist etwas ganz Besonderes und so fahre ich schließlich mit einem breiten Grinsen und dem Pusten der bis zum Anschlag aufgedrehten Autoheizung zurück nach Hause und freue mich schon auf die nächste Session.
Die Zeiten, in denen Surfen ausschließlich in warmen Gefilden stattgefunden hat, sind längst vorbei. Natürlich hat sich das Bild des langhaarigen, braun gebrann-ten Surfer-Dudes in Boardshorts unter Palmen in den Köpfen der Menschen eingebrannt, vor allem bei denjenigen, die nichts mit unserem Lifestyle am Hut haben. „Ist das nicht kalt?“, ist wohl die Frage, die ich in meinem Leben schon am häufigsten beantworten musste, und jedes Jahr, wenn die Temperaturen fallen und es draußen ungemütlich wird, kommen sie wieder – die ungläubigen Blicke. Dennoch reiben wir „Kaltwasser“-Surfer uns die Hände voller Vorfreude auf die kalte Jahreszeit, in der winterliche Stürme auf der Nordhalbkugel für die besten Bedingungen des Jahres sorgen.
Heutzutage gibt es kaum noch Küsten auf der Welt, an denen nicht gesurft wird. Überall da, wo es Wellen gibt, trifft man auch früher oder später auf Surfer und es ist keine Seltenheit mehr, dass man auf Reisen auf Gleichgesinnte aus Island, Norwegen oder sogar Sibirien trifft, die die Faszination für Wassertemperaturen nahe dem Gefrierpunkt teilen. Wer sich erst einmal mit dem Gedanken an kaltes Was ser abgefunden hat, den erwarten ein Naturerlebnis der anderen Art sowie vor allem (noch) verhältnismäßig leere Line-ups. Und dafür nimmt man bekanntermaßen einiges in Kauf. Deutsche Surfer, die auch im Winter nicht auf ein paar Wellen verzichten wollen, dafür aber nicht um die halbe Welt reisen wollen, müssen früher oder später nicht nur sprichwörtlich ins kalte Wasser springen. Nord- und Ostsee gelten als einige der kältesten Gewässer weltweit.
Aufgrund ihrer geringeren Tiefe und ihres geringeren Salzgehalts fallen die Wassertemperaturen im tiefsten Winter auf ungefähr 3 Grad; die Ostsee friert in strengen Wintern gar schon mal ganz zu. Auch die Temperaturen des Eisbachs befinden sich im Winter nur unweit des Gefrierpunkts.
Während der Eisbach bekanntlich das ganze Jahr über läuft, ist die Chance, an der Nord- und Ostseeküste im Winter Wellen zu finden, um einiges höher als im Sommer. Deutsche Campervans an den Küsten Hollands und Däne-marks sind deshalb mittlerweile auch im Winter ein alltäglicher Anblick und sogar auf den deutschen Nordseeinseln wie Sylt und Norderney laufen von Oktober bis Februar regelmäßig cleane Lines an die menschenleeren Strände, die im Sommer von Touristen übersät sind.